Er ist ein Pendler zwischen den Kulturen. Telmo Pires, einer der wenigen international auftretenden männlichen Fado-Sänger, zeigt, wie viele Facetten der portugiesische Musikstil hat. Erstaunlich, wie schrankenlos Pires seine Gefühle dabei nach außen kehren kann. Mal zerbrechlich und leidend, oft melancholisch, dann wieder kraftvoll und mit Leidenschaft: ein Cocktail der Emotionen. Gegensätze wie diese machen Telmo Pires' Auftritte so faszinierend. 1974 kommt er von Portugal nach Deutschland, seine Eltern fliehen vor den unsicheren Zeiten der „Nelkenrevolution“. Aufgewachsen im Ruhrgebiet, zieht es ihn bald nach Berlin, dann wieder zurück nach Lissabon. Es reisen mit: der Weltschmerz in der Stimme und der Sound der Heimat im Herzen. Für Pires bedeutet Fado auch Stille. „Und wenn man genau hinhört und die Melodie verfolgt, sagen die Portugiesen, hört man die Seele singen.“
Als einer der wenigen männlichen Vertreter der zeitgenössischen Fado-Szene füllt Telmo Pires in Deutschland große Konzerthallen, zuletzt u.a. den Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie, die Philharmonie Essen, die Peterskirche in Leipzig und die Hamburger Laeizhalle. Dabei begeistert sein individueller Ansatz Publikum wie Medien. „Telmo Pires erscheint nicht nur als eine neue Stimme, sondern auch als neues ‚Image’ des männlichen Fado“, schrieb das portugiesische Magazin Nova Gente schon 2016. Die Welt bezeichnete Pires als „ein Magier seines Genres“ und die WAZ schrieb: „Es gibt Stimmen, die nehmen geradezu Gestalt an, erfüllen einen Raum mit körperlicher Präsenz. Die von Telmo Pires gehört dazu.“
Através do Fado, auf Deutsch „durch den Fado“, hat Pires sein aktuelles Album genannt. Der Titel lässt sich mehrdeutig lesen, er reflektiert Pires' persönliche Beziehung zum Fado ebenso wie dessen Vielseitigkeit. „Fado bedeutet Schicksal“, konstatiert Telmo Pires, „er hat mich vor zehn Jahren nach Lissabon gebracht. Ich drücke mich künstlerisch in dieser Musik aus, sehe das Land, die Art wie ich lebe und wie ich liebe durch den Fado.“
Neben der weithin bekannten Melancholie kann die ursprünglich auf den Straßen entstandene Musik durchaus auch fröhliche Züge tragen, was hierzulande weit weniger geläufig ist. „Fado spiegelt die Dinge des Lebens, ob Trauer oder Lebendigkeit“, sagt Pires. „Amália Rodrigues hat ihn durch ihre Schwere für alle Zeiten geprägt. Mich persönlich interessieren aber beide Aspekte.“ So interpretiert Pires beispielsweise Oiça lá ó Senhor Vinho, zu Deutsch „Hören Sie, Herr Wein“, des in den Fünfzigern und Sechzigern populären Songschreibers Alberto Janes, der viele Lieder für die Fado-Ikone Rodrigues schrieb. Mit seinem rhythmischen und melodischen Schwung scheint der Song beinahe zum Tanzen einzuladen, während es im lustigen Text sinngemäß heißt: hören Sie, Herr Wein, was machen Sie mit mir? Worauf der Wein antwortet: ich bin ein göttliches Getränk, wenn du mich behandelst wie Wasser, bist du selbst für die Konsequenzen verantwortlich.
1972 in Bragança unweit der nordöstlichen Grenze zu Spanien geboren, wuchs Pires nach dem Umzug der Familie im Ruhrgebiet auf. Als Teenager spielte er Gitarre in einer Rockband, schwenkte dann um zu Chansons mit portugiesischer, deutscher und französischer Poesie. 2004 präsentierte er, mittlerweile in Berlin ansässig, Passos, sein erstes Album mit selbst geschriebenen Fado-Songs sowie Adaptionen von Klassikern des Genres.
Rund fünf Jahre und eine CD später erreichten Aufnahmen eines Konzerts im Berliner Admiralspalast Portugal. Es folgte eine Einladung in eine dortige TV-Talkshow, die zum Sprungbrett für Pires' Karriere in seinem Geburtsland wurde.
„In Portugal gehört Fado zur Popkultur und läuft im Radio“, erklärt Pires, „viele Entwicklungen der letzten Jahre wurden von Plattenfirmen angestoßen, etwa Erweiterungen der Arrangements um Instrumente aus dem internationalen Pop.“ Auch Telmo Pires hat früher mit ähnlichen Ideen gespielt, sie aber wieder verworfen. Während er auf der Bühne von jeher die weit verbreitete statische Präsentation durch agile Präsenz konterkariert, fokussiert er sich musikalisch immer mehr auf die Essenz der Lieder. „Ich denke nicht in Konzepten“, sagt Pires, „was ich mache ist das Ergebnis einer organischen Entwicklung.“ Intuition und Reflexion brachten ihn dazu, diesmal noch konsequenter als früher die eigenen Vorstellungen umzusetzen, bis hin zu dem ebenso überraschenden wie eindringlichen a capella-Stück No espelho zum Abschluss des Albums.
Absichtsvoll hat Pires im Studio auf Gast-Stars verzichtet, die Musik stattdessen mit eben jenen Musikern eingespielt, mit denen er vorher auf Tournee war. Sie verstehen sich selbst als profunde Begleiter und stellen ihre Talente nicht aus. „Ich wollte das Album so schlicht wie möglich halten und genau das, was ich auf der Bühne mache, auch auf die Platte bringen“, betont Pires. „Deswegen habe ich darauf bestanden, im Studio alles live aufzunehmen. Mit diesen Musikern funktioniert das, weil sie mich kennen und wissen, wie ich denke und singe.“
Das Repertoire von Através do Fado umfasst drei selbst geschriebene Texte, zu zwei von ihnen hat Pires auch die Musik komponiert. Era uma vez (Es war einmal) ist ein weiteres recht schwungvolles Stück, das sich nicht nur musikalisch von Traditionen abhebt. Sarkastisch beschreibt Pires hier Auswirkungen des aktuellen Über-Tourismus in Lissabon, darunter die Verdrängung alter Kneipen durch schick renovierte Hostels, in denen weder Fado gesungen, noch portugiesisch gesprochen wird. Und wenn Pop-Star Madonna auf den Markt geht, gefolgt von St. António, dem Schutzheiligen der Stadt, versteht Pires diese Szene als Metapher für die Haltung der Hauptstadtbewohner, dass die eigenen Dinge erst dann einen Wert bekommen, wenn sie von Auswärtigen geschätzt werden.
Zwei weitere Gedichte lieh sich Pires von dem politisch engagierten Autor Manuel Alegre (*1936) und dem Poeten und Dramaturgen Tiago Torres da Silva (*1969), letzterer (Sem peso ou medida) dreht sich um Veränderungen: „ich bin ein Fremder in der Stadt, geführt von der Sehnsucht der entfernten Orte, die mich hergebracht hat.“ Der Text zu Não sou nascido do fado stammt von der zeitgenössischen Fado-Sängerin Ana Lains (*1979) und ist, so Pires, „eine Hommage an unsere Wurzeln. Ich bin nicht vom Fado geboren, sondern vom Leben, der Stimme im fernen tosenden Wind.“ Silêncio e tanta gente kommt hingegen aus einer ganz anderen musikalischen Richtung. Die Singer/Songwriterin Maria Guinot (1945-2018) nahm mit ihrer Ballade 1984 am Eurovision Song Contest teil.
„Bis heute habe ich Hochachtung davor, dass sie sich alleine am Klavier diesem Wettbewerb aussetzte“, sagt Telmo Pires, „zudem berührt mich das Bild der Stille zwischen den vielen Menschen.“ In einigen anderen Songs bedient sich Pires Melodien, die von berühmten Fado-Künstlern komponiert und als Fado Cravo, Fado Menhor do Porto oder Fado Vianinha in den Kanon des Genres eingingen.
Schon seit Fado Promessa, seinem ersten in Lissabon eingespielten Album, arbeitet Telmo Pieres mit dem Produzenten und Cellisten Davide Zaccaria. Er ist eine feste Größe in der portugiesischen Szene, hatte zuvor unter anderem Dulce Pontes produziert, die Pires ebenfalls schätzt. „Davide kennt sich perfekt in der traditionellen Fado-Stilistik aus, hat aber als Italiener eine andere Sicht darauf. Uns verbindet, dass wir nicht so gebunden sind an die überlieferten Präsentationsformen; nach all den Jahren empfinden wir uns als Brüder.“ Bei Através do Fado übernahm Zaccaria nicht nur die Rolle des Ko-Produzenten, er schrieb und spielte auch das kammermusikalische Streicher-Arrangement von Uma flor de verde pinho.
Seine persönlichsten Lieder hat Telmo Pires an den Anfang und ans Ende von Através do Fado gestellt. Só o meu canto (Nur mein Gesang) drückt aus, dass wir unserer inneren Stimme folgen sollten; aller vermeintliche Besitz kann irgendwann verloren gehen, doch die Stimme gehört wirklich uns. No espelho (Im Spiegel) reflektiert darüber, die Vergangenheit mit Gedanken und Wünschen in Verbindung zu setzen. Für den Songpoeten bedeutet das, seine Jugend im Ruhrgebiet und seine Liebe zur Fado-Historie zu vereinen. Pires' singuläre Geschichte mag zu seinem paneuropäischen Erfolg der letzten Jahre ebenso beigetragen haben wie seine bewegende Stimme und der zeitgenössische, stilübergreifende Ansatz. Mit Através do Fado unterstreicht Telmo Pires eindrücklicher denn je seine Sonderstellung in der Fado-Szene und entwickelt eine Gravitationskraft, die weit über sie hinaus reicht.
Foto: Ismael Prata