Werkstattgespräch mit dem Düsseldorfer Künstler Oliver Gather
Herr Gather, wie würden Sie Ihr künstlerisches Arbeiten beschreiben?
Studiert habe ich Bildhauerei bei Tony Cragg und Ulrich Rückriem an der Kunstakademie Düsseldorf. Es hat jedoch nicht lange gedauert, bis ich mich von der ergebnisorientierten Arbeit im Atelier weiterentwickelt habe hin zum performativen Ereignis beziehungsweise Erlebnis. Mir lag daran, die Offenheit im Prozess zu suchen, und mit einem kontextualisierten, sozialen Raumverständnis zwischen Bildhauerei und Performance zu arbeiten.
Wie ist die Idee für das #nrwzeigtkultur-Projekt entstanden?
Nach einer Reihe von Arbeiten, die Menschen und ihre Lebenswelt befragen, kam mir 2020 der Gedanke, mein eigenes Elternhaus in Monheim am Rhein (NRW) zum Ausgangspunkt für ein Projekt zu machen. Konzeptionell stellte ich mir die Frage, ob und wie ich Vertrautheit und Außenperspektive zusammenbringen kann. In anderen Projekten bin ich zwar stark involviert in das, was Menschen tun, aber zugleich kann ich mit dem aus der Ethnologie bekannten „fremden Blick“ unbefangen auf Situationen schauen, und so das scheinbar Normale in Sonderbares transformieren. Aber funktioniert das auch beim eigenen Elternhaus? Zudem frage ich mich, wie ich vom Singularen, Persönlichen auf eine Ebene des Allgemeinen kommen kann. Ist es möglich, das singuläre Haus in Monheim mit dem allgemeinen Haus der Stadtgesellschaft zu kombinieren?
Welchen Einfluss haben die aktuellen Lebens- und Alltagsbedingungen auf ihr Projekt „Heim Suchen/Haunting Home“?
Das Projekt bildet inhaltlich die gegenwärtige Zeit ab. Die Idee, eine Kartografie-Arbeit nicht auf Ausdehnung anzulegen, sondern umzustülpen und als innere Karte zu begreifen, hat viel mit dem Themenfeld Isolation zu tun. Homeoffice und Lockdown sind Phänomene, in denen Rückzug, Rückbesinnung, Besinnung auf Erinnerungen, Bewegung nach innen relevant werden.
Wie und wodurch entwickelt sich das Projekt weiter?
Durch kontinuierliches Beobachten, Probieren, Recherchieren, Verwerfen, Weitersuchen, Verwerfen, Fokussieren, Weitersuchen ...
Sie kombinieren unterschiedliche Herangehensweisen. Was hat das alles mit invertierter Kartografie, mentalem Mapping zu tun?
Etwas zu kartografieren, eine Karte zu erstellen, bedeutet grundsätzlich schon einmal „Das gehört mir! – Ich habe das aufgezeichnet!“. Eine mentale Karte bildet im Gegensatz zu einer Raumaufzeichnung durch eine streng geometrische Raumvermessung eher so etwas wie eine innere Karte ab, etwas, das jemand, der den Raum nutzt, subjektiv, emotional und atmosphärisch im Raum wahrnimmt.
Ich nutze hier unter anderem die 360-Grad-Fotografie, wie sie zum Beispiel in Apps wie Google Street View benutzt wird. Sie ist ein Werkzeug, das zum Regime einer sehr offensiven, explorativen Vermessung von Welt gehört. Um dokumentarisch verfremdendeine andere Art von Welt sichtbar zu machen, versuche ich dieses Werkzeug umzunutzen. Mich interessieren die Fehler, die entstehen, das Seltsame, das entsteht, wenn ich mit der Technik spiele: Die Räume verformen sich und bieten wertvolle Lücken, die uns vielleicht aus der normierten Gestaltungshoheit der Anbieter herausführen.
Ich gehe mit dem Tool nicht nur nach außen, in die Ferne, sondern in die Innenwelt des Elternhauses. Hier stehen Dinge im Zentrum, die im Laufe der Jahre ihren Weg ins Haus gefunden haben. Alltägliche Dinge – ein Schraubendreher, ein Kleidungsstück, eine Taschenuhr oder ein Stein – sind mit Bedeutungen aufgeladen und verknüpfen das Haus mit dem Außen. Die Dinge verorten das Haus in der Welt, weil sie alle von anderen Orten hier hin, wie in ein Nest, getragen wurden. Damit sind sie Teil der mentalen Kartografie, der inneren Karte des Elternhaus-Kosmos. Hinzu kommen Gespräche mit meinem Vater, die ich zurzeit filmisch begleite. Er erzählt über die Dinge und entschlüsselt deren Wissensspeicher.
In welchem Verhältnis dazu steht der soziale Raum respektive bei diesem Projekt der proxemische Raum? Warum Umstülpung des Raums?
Proxemik ist eine Raumtheorie des Anthropologen Edward T. Hall, der unseren Sozialraum in vier Distanzzonen unterteilt. Die weiteste Distanzzone ist die öffentliche, und die nächste, engste Zone ist der intime Raum, von Roland Barthes „proxemischer Raum“ genannt. Hier setzt dieses Projekt an: im intimen Innenraum, in dem die alltäglichen Dinge zu finden sind, die das Außen speichern. Genau dadurch findet eine Umstülpung der Dimensionen statt: Im Haus meines Vaters verweisen Dinge auf eine ferne Herkunft, beispielsweise ein Stein von der Akropolis oder ein glasgeblasener Schneemann aus Thüringen.
Arbeiten Sie alleine oder gibt es noch Mitstreiter?
Der maßgebliche Mitstreiter ist mein Vater, als Bewohner des Elternhauses steht er im Mittelpunkt des Untersuchungsfeldes.
Wann begannen die Planungen? Was soll sichtbar werden?
Die ersten Gedanken zum Projekt kamen mir im Juli 2020. Das Projekt ist zunächst als offene künstlerische Forschung gedacht, mit ebenso offenem Ende. Aber natürlich sind wir im Bereich der visuellen Kunst, es soll also durchaus etwas sichtbar werden. Im Rahmen des Arbeitsprozesses entstehen Bilder, Filme, Karten und eine Sammlung von Gesprächen/Statements sowie Fotografien von Fundstücken. Sie sollen, sobald das wieder möglich ist, im Rahmen eines Gesprächs, ähnlich meinen Wohnzimmergesprächen „Dampf und Dunst/Steam and Haze“ in Mönchengladbach-Rheydt (2019), installativ zusammengebracht und öffentlich präsentiert werden. Parallel ist eine digitale Version, in der das invertierte, umgestülpte Mapping eine Form findet, in Arbeit.
In der Ausschreibung des Kultursekretariats NRW Gütersloh stand, dass Projekte unterstützt werden, die „neue digitale Wege beschreiten“. Welche Wege beschreiten Sie mit „Heim Suchen/Haunting Home“?
„Heim Suchen/Haunting Home“ startet als Untersuchung im privaten Raum. Diesen Ansatz fand ich spannend, gerade weil ich mich seit Jahren mit der Kunst im öffentlichen Raum befasse. Das Projekt sucht mit digitalen Mitteln nach einer Möglichkeit, das Innerste sichtbar zu machen. Ich stelle mir vor, dass man aus dem privaten Raum heraus wie durch ein Wurmloch oder ein Nadelöhr in eine andere, öffentliche Sphäre gelangt. Dabei spielen in Darstellung und Visualisierung digitale Methoden, in Form einer Website, als Online-Map und als Online-Videoinstallation eine große Rolle.
Kommune und Kunst – wie hängt das für Sie zusammen?
Meine Arbeiten haben im Wesentlichen etwas zu tun mit den Menschen, die den Raum meiner Untersuchungen tagtäglich nutzen. Man könnte sagen, dass meine Projekte Kommunen oder Communities abbilden, sei es eine Gemeinschaft von E-Zigaretten-Dampfern (Dampf und Dunst/Steam and Haze, Mönchengladbach 2020) oder von Revierjägern (Hochsitzen, Battenberg 2020), von Rassehühnerzüchtern oder Stockcar-Racern (Hühner in der Kurve, Baruth 2015). In allen Phasen des künstlerischen Herstellungsprozesses spielen Gemeinschaften und die Begegnung mit ihnen eine entscheidende Rolle. „Heim Suchen/Haunting Home“ startet umgekehrt größtmöglich privat. Es ist der Versuch einer Bewegung vom Singularen in die Gemeinschaft – vom privaten Siedlungshaus in die Kommune.